Warum die Politik beim Mindestlohn nicht mitmischen sollte

Eine der Knackpunkte der Koalitionsverhandlungen ist bekanntlich der Mindestlohn. Man will ihn zügig auf 15 Euro anheben – 2026 ist das Ziel. Man scheut sich jedoch, eben dies gesetzlich verbindlich vorzugeben. Zu deutlich sind wohl in Erinnerung die mahnenden Worte der damaligen Opposition, der unabhängigen Mindestlohnkommission nicht politisch ins Handwerk zu pfuschen. Deshalb setzt man auf Vorgaben für die Mindestlohnkommission, die sich nun nicht nur einer Tarifentwicklung, sondern auch am Ziel "60 Prozent des Bruttomedianlohn von Vollbeschäftigten" orientieren soll.
Mindestlohnkommission sollte politisch unabhängig entscheiden
Für den ein oder anderen mutet dieses Kriterium ein wenig seltsam an, denn gerade diese 60-Prozent-Grenze entstammt der europäischen Mindestlohnrichtlinie, die kürzlich noch der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) für europarechtswidrig gehalten hat. Aber dieses Kriterium findet sich auch bereits in der aktuellen Fassung der Geschäftsordnung. Die Mindestlohnkommission hat sich im Januar 2025 in ihrer Geschäftsordnung darauf verständigt, dass sie sich zur Festsetzung des Mindestlohns im Rahmen einer Gesamtabwägung eben nicht nur – wie bisher - "nachlaufend an der Tarifentwicklung", sondern eben auch "am Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten" orientieren wird.
Der deutsche Gesetzgeber hat die Suche nach der richtigen Höhe des Mindestlohns bislang in die Hände einer unabhängigen Kommission gelegt. Das war gut so. So hat er die Höhe raus aus der Politik genommen und hineingelegt in ein Gremium, das sachnah und ausgewogen auch auf die Kompetenz und Teilnahme der Sozialpartner zählen kann. Diese Kommission bemüht sich, insbesondere nicht in Konkurrenz zu den Tarifpartnern zu treten und durch ihre Beschlüsse Tarifabschlüsse zu präjudizieren. Das ist legitim, und wer daran Hand anlegt, der muss begründen, warum die Festlegung nach Wählergunst besser als nach Sachverstand ist. Bei der Erhöhung auf 12 Euro im Jahr 2022 ist man einen anderen Weg gegangen und nicht nur die Arbeitgeberseite empfindet das heute noch als Sündenfall.
Orientierungsspielraum wäre wichtig
Letztlich spiegelt sich hier die Frage: Soll der Mindestlohn das gewährleisten, was ich zum Leben brauche oder was der Mindestproduktivität meines Arbeitsverhältnisses entspricht? Hier eine angemessene Lösung zu finden, bedarf der Diskussion – am besten politisch fern in einer unabhängigen Kommission. Dort gehört es hin, und da ist es richtig verankert. Es braucht eine regelbasierte, keine politische Anpassung des Mindestlohns. Und was die Kommission da in ihre Geschäftsordnung Anfang des Jahres aufgenommen hat, ist eine Brücke, die dem Gesetzgeber gebaut wird, aber eben doch etwas ganz anderes als eine Festschreibung einer bestimmten Höhe. Denn "orientieren" ist ein bewusst weich gewähltes Verb. Das macht schon die Geschäftsordnung selbst deutlich, denn danach kann die Kommission von den Kriterien "abweichen, wenn besondere ökonomische Umstände vorliegen."
Und ganz allgemein heißt die Verpflichtung zur Orientierung an dieser Marge eben nicht: Die 60 Prozent müssen erreicht werden (wie es nun wohl aus der Politik der Wunsch ist), sondern dieses Ziel muss in die Entscheidung mit einbezogen werden. Das ist bei Gesetzen immer so. Wahllos herausgegriffen: "Die Zulassung ausländischer Beschäftigter orientiert sich an den Erfordernissen des Wirtschafts- und Wissenschaftsstandortes Deutschland" heißt es in § 18 Aufenthaltsgesetz – ein Anspruch auf Einwanderung ergibt sich daraus nicht.
Oder § 8 Bundespflegesatzverordnung: "Ab dem achten Tag des Krankenhausaufenthalts kann das Krankenhaus eine angemessene Abschlagszahlung (vom Patienten) verlangen, deren Höhe sich an den bisher erbrachten Leistungen in Verbindung mit den voraussichtlich zu zahlenden Entgelten orientiert." Die genaue Höhe ist dann eine Ermessensentscheidung des Krankenhauses, die nur auf Plausibilität überprüft werden kann. Oder § 8 Bayrisches Gastbeitrag Thüsing Mindestlohn Hochschulinnovationsgesetz: "Die Zuweisung der Stellen und Mittel orientiert sich an dem zur Erfüllung der Aufgaben … erforderlichen Bedarf und an den in Forschung und Lehre sowie bei der Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses erbrachten Leistungen." Die Gewichtung der Kriterien ist dann wiederum eine Ermessensentscheidung.
Medianverdienst sollte nicht verabsolutiert werden
Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aber das Wichtige ist: Die Kommission hat sich selbst verpflichtet, den Median des Einkommens mit in den Blick zu nehmen, dann ist es erst recht falsch, wenn die Politik ein bestimmtes Entgelt vorschreiben will. Schon deshalb, weil im Median das Gehalt in den ostdeutschen Bundesländern rund 16 Prozent unter den Gehältern im Westen liegt. Schon von der Sache her wäre es also sinnlos, diesen Gesichtspunkt zu verabsolutieren.
Was in der Geschäftsordnung steht, ist auch in Bezugnahme auf die 60-Prozent-Grenze letztlich deklaratorisch. Nach ihr soll die 60-Prozent-Grenze nachlaufend in Bezug genommen werden. Es geht eben nicht darum, einen künftigen Median abzubilden, sondern den zum Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblichen. Und der ist ohnehin nach dem aktuellen Gesetz nicht irrelevant, heißt es doch im Mindestlohngesetz ausdrücklich: "Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden." Zu all dem gehört auch der Medianverdienst.
Die Gesamtumstände sollten für eine Festlegung entscheidend sein
Die Gesamtumstände sind in den Blick zu nehmen – wie könnte man den Median ausblenden. Aber es bleibt bei den Gesamtumständen – nicht bei einem festen, politisch vorgeschriebenen Entgelt. Wir befinden uns in einer deutlichen Wirtschaftskrise. Eine Schrumpfung des BIP über drei Jahre hatten wir in der bundesdeutschen Wirtschaftskrise seit Kriegsende noch nie. Dies muss auch bei der Festsetzung des Mindestlohns berücksichtigt werden.
Es bleibt dabei: Der erneute Staatseingriff wäre letztlich das Aus einer unabhängigen Kommission. Das muss man wissen, und das müsste man wollen. Oder eben auch nicht. Politik raus aus dem Mindestlohn!
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